Wir haben Krebs

 

Wenn die Diagnose »Krebs« lautet, hört die Welt für einen Moment auf, sich zu drehen. Sechzehn Menschen verraten die wichtigsten Erkenntnisse über ihre Krankheit.

 

Süddeutsche Zeitung Magazin / 25. Januar 2008

 

PROTOKOLLE: Mauritius Much


Barbara Kardetzky / 66

Darmkrebs, Diagnose im Jahr 2003
Krebs ist ein Schrei der Seele. Alle Leidensgenossen, die ich kenne, litten unter unbewältigten Problemen. Bei mir war es nicht anders. Meine Schwester und mein Mann sind früh an Krebs gestorben - und kurz danach starb mein neuer Partner. Ich war oft sehr traurig und bekam Probleme mit der Verdauung. Heute weiß ich, dass sich der Krebs schon damals im Darm ausbreitete. Also musste ich mich ändern - bewusster leben und egoistischer werden. Krebs kriegen nämlich vor allem Menschen, die nicht an sich denken, sondern sich nur für andere aufopfern.

 

Hans Rüdiger Lutz / 66

Blasenkrebs, Diagnose im Jahr 1979, Prostatakrebs, Diagnose im Jahr 1998
Ich lebe seit gut 28 Jahren mit meinem Blasenkrebs. Achtmal ist der Krebs bisher zurückgekehrt. Es ist wie ein Spiel: Die Ärzte schneiden mir den Tumor aus der Blase heraus, alle drei Jahre wächst er wieder nach, dann werde ich wieder operiert. In den ersten Jahren habe ich gehofft, dass ich den Krebs endgültig loswerden kann, aber das wird mir wohl nicht gelingen. Anfangs fürchtete ich, dass ich die ersten zehn Jahre nach der Diagnose nicht überleben werde. Heute lebe ich fast schon so lang mit Krebs wie davor ohne, obwohl ich vor neun Jahren auch noch an Prostatakrebs erkrankte. Der Krebs ist für mich inzwischen so normal wie bei anderen der Alterszucker.


Maria Schredl / 18
Nierenkrebs, Diagnose im Jahr 2006 Metastasen in der Leber, Diagnose im Jahr 2006
Ich bin stolz darauf, dass ich im April und Mai mein Abitur mache. Trotz Krankheit und Chemo habe ich kein Jahr wiederholen müssen. Nach der Diagnose darf man nur nicht aufgeben, denn es gibt viele Mittel, den Krebs zu bekämpfen. Er ist noch lange nicht das Todesurteil.


Rita Wittmann / 43

Brustkrebs, Diagnose im Jahr 2005
Manchmal hätte ich mir einen »neutraleren« Krebs an einem anderen Organ gewünscht. Über den hätte ich wesentlich unverkrampfter sprechen können.

 

Julian Weinel / 15
Embryonales Rhabdomyosarkom, Diagnose im Jahr 2004
Fernsehen langweilt mich heute sehr schnell. Kaum schalte ich die Glotze ein, laufen Serien oder Zeichentrickfilme, die ich in- und auswendig kenne. Im Krankenhaus habe ich nämlich während der acht Monate Chemo nur geglotzt - weil es am besten von Schmerzen ablenkt. Allerdings muss man sich erst mit den anderen Kindern einigen, was geschaut wird. Nicht einfach, wenn man sich als Elfjähriger mit einem 17-Jährigen und einem Kindergartenkind ein Zimmer teilt. Aber besser als ein Baby: Es nervt total, wenn es immer schreit, man selbst möchte aber nur Ruhe haben, weil es einem dreckig geht. Zum Glück gab es im Krankenhaus auch den Felix. Er war drei Jahre älter als ich und hatte schon einmal eine Chemo durch-gemacht. Sooft es ging, wurden wir auf ein Zimmer gelegt. Er hat mich beruhigt und genau erklärt, was mit mir während der Behandlung passiert. Mit ihm konnte ich über alles reden. Nachdem ich aus dem Krankenhaus herauskam, blieb ich mit ihm befreundet und besuchte ihn, sooft es sein Zustand erlaubte. Leider ging es ihm immer schlechter. Vergangenen Februar ist er gestorben - sechs Tage nach seinem 18. Geburtstag, den wir noch gemeinsam gefeiert hatten. Das war sehr schlimm für mich. Aber man darf über so ein schreckliches Schicksal nicht nachdenken. Schließlich habe ich ein ähnliches Sarkom, aber mir geht es schon besser. Ich kann sogar wieder tauchen gehen.

 

Otmar Fäth / 60

Bauchspeicheldrüsenkrebs, Diagnose im Jahr 2006
Natürlich weiß ich, dass es mit mir sehr schnell zu Ende sein kann. Trotzdem hoffe ich, noch lang zu leben. Dabei denke ich in kleinen Schritten. Immer setze ich mir neue Ziele, die ich noch erreichen will. Mein 60. Geburtstag im November war so ein Ziel. In drei Jahren wird meine Frau 60, und ich komme ins Pensionsalter. Warum soll ich das nicht auch noch schaffen? Schön wäre es, weil dann meine Familie in jedem Fall komplett finanziell abgesichert wäre.

 

Sabine Hrubey / 21

Leukämie, Diagnose im Jahr 1995
Wer noch Haare hat, ist auf der Kinderstation ein Außenseiter. Jedes Kind hat hier eine Glatze. Das hat mir sehr geholfen, als mir meine blonden, schulterlangen Haare sofort nach Beginn der Chemo-therapie büschelweise ausfielen. Ich war damals neun Jahre alt. Trotzdem waren die Monate der Chemo sehr hart. Wenn man nicht rund um die Uhr kämpft, überlebt man den nächsten Tag nicht. Dabei fühlte ich mich schwach und musste mich ständig übergeben. Doch ich wusste: Je länger ich die Chemo überlebe, desto größer die Chance, meine Leukämie zu besiegen. Nur fünfzig Prozent überleben meine Krankheit, haben die Ärzte anfangs meinen Eltern erklärt. Auch mir war klar, dass es um Leben oder Tod geht. Inzwischen sind zwölf Jahre vergangen, ohne dass mein Krebs zurückgekommen wäre. Ich führe ein völlig normales Leben, allerdings hat es Jahre gedauert, bis mein Körper die Folgen der Chemo überwunden hatte. Direkt danach hatte ich fast schwarze Haare, erst nach fünf Jahren waren sie wieder so blond wie vorher. Natürlich erzähle ich nicht jedem von meiner Krankheit. Denn oft sind die Leute peinlich berührt und sagen, dass es ihnen leid tue. Aber ich brauche kein Mitleid, ich habe den Krebs besiegt.


Hans Neumann* / 65

Prostatakrebs, Diagnose im Jahr 2001

Etwas Peinlicheres kann ich mir nicht vorstellen: Man hält einen Vortrag vor Kunden - und plötzlich wird die Hose feucht. Genau das hätte mir jederzeit passieren können, wenn mir nach der Diagnose meine Prostata entfernt worden wäre. Damals war ich noch voll berufs-tätig und hielt ständig Präsentationen vor Mitarbeitern und Kunden. Mit dieser Angst bin ich nicht allein: Viele Männer mit Prostatakrebs leiden schrecklich darunter, inkontinent zu sein. Ich behaupte sogar, dass Inkontinenz für viele noch schlimmer ist als Impotenz. Gegen Impotenz gibt es viele Hilfsmittel, die gut funktionieren - Viagra zum Beispiel. Während der Monate der Hormonblockade, die das Testosteron radikal senkt und den Krebs für eine gewisse Zeit in Schach hält, bekam ich keine Erektion mehr. Aber ich konnte damit sehr gut leben, weil ich in dieser Zeit keinerlei sexuelles Verlangen verspürte.

 

Concetta Tatti / 31
Ewing-Sarkom, Diagnose im Jahr 2002

Seit meinem dritten Lebensjahr leide ich an juveniler Dermatomyesitis, einer rheumatischen Erkrankung, die meine Muskeln zurückbildet. Ich habe wenig Kraft, bin sehr schmal und nur 1,46 Meter groß. Auf die Toilette oder vom Sofa aufstehen kann ich nicht allein, zu Fuß schaffe ich fünfzig Meter, dann brauche ich einen Rollstuhl. Trotzdem habe ich meine Behinderung schnell angenommen. Ich liebe das Leben. Deshalb war es wie ein Schlag ins Gesicht, als ich vor fünf Jahren erfuhr, dass ich auch noch an Bindegewebskrebs leide. Warum werde ich denn doppelt bestraft? Reicht die Behinderung nicht? Die Behinderung habe ich im Griff, seit ich 16 Jahre alt war. Seitdem bilden sich meine Muskeln nicht mehr zurück. Aber der Krebs ist viel teuflischer. Ich muss ständig damit rechnen, dass er zurückkommt oder sich auf andere Organe ausbreitet. Ich habe Angst davor, an dem Sarkom zu sterben. Am liebsten würde ich das Buch meines Lebens nehmen und die Seiten mit dem Krebs einfach rausreißen. Aber im nächsten Moment will ich die Seiten wieder ins Buch zurücklegen, weil ich auch positive Dinge durch die Krankheit erfahren habe. Ich habe im Krankenhaus Menschen kennengelernt, die heute sehr gute Freunde sind, und leite eine Gruppe für jugendliche Krebspatienten. Das gibt mir viel Kraft.


Iris Tescher / 58

Gebärmutterkrebs, Diagnose im Jahr 2006
Bei einem Bekannten habe ich gesehen, wie sehr er gelitten hat, bevor er an Krebs starb. So weit soll es bei mir nicht kommen. Für mich ist es wichtig, selbst zu bestimmen, wann mein Leben zu Ende ist. Natürlich weiß man nie, wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, vor allem wenn man, wie ich zurzeit, so bewusst und gern lebt wie nie zuvor. Aber ich möchte mein Leben auch in Zukunft selbst in der Hand haben. Deshalb mache ich mir schon meine Gedanken über das Angebot der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Dignitas. Am liebsten wäre es mir, wenn ich für den Fall der Fälle ein Fläschchen mit Gift zu Hause hätte.


Ünzüle Ören / 23

Leukämie, Diagnose 1995, Metastasen in den Lymphknoten im Jahr 2001

Ich hatte es fast geschafft: Sieben Jahre ohne Rückfall und ich bin geheilt, hatten mir die Ärzte gesagt. Dann spürte ich plötzlich große Schmerzen in der Nierengegend: Es hatten sich Metastasen in den Lymphknoten gebildet – sechseinhalb Jahre nach meiner ersten Krebstherapie. In den ersten Monaten nach diesem Rückfall befürchtete ich natürlich sofort das Schlimmste, wenn ich Schmerzen in der Nierengegend hatte. Oder wenn die Lymphknoten am Hals anschwollen, weil ich erkältet war. Mit der Zeit wurde ich gelassener. Heute ist es so, dass ich nicht gleich zum Arzt renne, sondern erst ein paar Tage abwarte, ob die Schmerzen von selbst verschwinden. Ich will mich nicht verrückt machen. Andererseits: Ein mulmiges Gefühl bekomme ich immer noch.  

 

Birgit Mitgefaller / 30

Lymphdrüsenkrebs, Diagnose im Jahr 2000

Immer habe ich davon geträumt, Mutter zu werden. Aber seit der Chemotherapie spielt mein Unterleib verrückt. Ich habe oft Schmerzen, nur ganz selten habe ich meine Periode – in fünf Jahren ganze zwei kleine Blutungen. Meine Eierstöcke hatten zu arbeiten aufgehört. Ich habe mir gedacht: Die Chemo hat mich vom Krebs geheilt, ich darf leben. Aber dafür muss ich den Preis bezahlen, keine Kinder mehr zu bekommen. Jeder, der eine Chemo hinter sich hat, muss mit den Nebenwirkungen klarkommen. Bei mir hat es den Unterleib getroffen.  
Mein Partner und ich waren entschlossen, ein Kind zu adoptieren. Ich wollte doch so gerne Mutter sein. Im Dezember 2005 bin ich zu meiner Frauenärztin gegangen, weil ich ein Brennen im Unterleib spürte. Ich habe auf eine Entzündung der Eierstöcke oder der Blase getippt. Nach fünf Jahren bin ich zu einer Expertin für Unterleibserkrankungen geworden. Meine Ärztin hat mich mit dem Ultraschall untersucht. Plötzlich schaut sie ungläubig auf den Monitor, dann zu mir und dann wieder zum Monitor. "Birgit, du bist im vierten Monat!", hat sie dann gesagt. Mir ist die Kinnlade runtergefallen. Ich konnte es nicht fassen. Eine Schwangerschaft war das letzte, womit ich gerechnet hatte. Mir war ja weder übel noch wuchs mein Busen. Ich war so glücklich: Endlich Mutter werden.  
Ich hatte aber auch Bedenken, dass das Kind gesund zur Welt kommt. In sechs Monaten Chemo hatte ich so viele Wirkstoffe in meinen Körper bekommen. Und gegen die Unterleibsschmerzen nahm ich jahrelang viele Medikamente. Ein bisschen Angst hatte ich auch vor der Geburt. Chemo und Bestrahlung hatten meine Lunge total geschwächt. Ich kann auch heute noch keine 100 Meter laufen, ohne auszusehen wie ein Amateurläufer nach einem Marathon. Ich fürchtete mich davor, dass mein Kreislauf die Strapazen der Geburt nicht schafft. Aber Nick hatte es sehr eilig, auf die Welt zu kommen. Nach anderthalb Stunden lag er in meinen Armen – gesund und munter.  

 

Jürgen Katzer / 44

Leukämie, Diagnose im Januar 2007

Wenn man eine Krankheit wie Krebs hat, erkennt man schnell, wer ein wahrer Freund ist. Ein richtiger Freund fragt nicht ständig, wie es einem genau geht. Er ist sensibel genug, um zu verstehen, ob vom Kranken die Botschaft kommt, dass er erzählen möchte. Wenn sie nicht kommt, dann sollte man das respektieren. 

 

Josef Fromm / 76 und seine Frau Helene / 71

Diagnose Bauspeicheldrüsenkrebs 2004 und Diagnose Brustkrebs 2002, 2007 Lebermetastasen

 

Helene: Wir haben von Anfang an offen über unsere Krebserkrankungen gesprochen. Wer nicht darüber reden kann, der verkrampft. Dann kann sich der Körper nicht zu hundert Prozent darauf konzentrieren, gegen die Krankheit zu kämpfen. Es gibt doch keinen Grund, den Krebs geheim zu halten. Wir haben doch nicht die Pest.  
 
Johann: Schon im Krankenhaus hast du vor deiner Brustoperation das ganze Krankenzimmer unterhalten. Ein Witz nach dem anderen. Da kommt man in das Zimmer rein und will seiner Frau Mut machen vor der schweren Operation – und das einzige was man hört, ist Gelächter.  
 
Helene: Humor hilft mir, mit meiner Krankheit zurecht zu kommen. Es kommt bei Krebs überhaupt auf die Einstellung an. Positives Denken ist das A und O. Wenn man immer nur Komplikationen oder Metastasen im Kopf hat, kann man ja nicht gesund werden.  
 
Johann: Leider hast du ja auch vor ein paar Monaten Metastasen bekommen. Da habe ich mich als Partner schon schlecht gefühlt: Ich habe meinen Bauchspeicheldrüsenkrebs besiegt und bei der Ehefrau kommt der Krebs in der Leber zurück.  
 
Helene: Deswegen musst du dich nicht schlecht fühlen. Mit dem eigenen Schicksal hadern bringt doch nichts. Ich habe doch Glück, dass die Chemo bei mir optimal anschlägt. Sonst hat man ja keine so guten Chancen, wenn sich Metastasen in der Leber bilden. Außerdem war deine Diagnose viel niederschmetternder. Nur 5 Prozent Überlebenschancen haben dir die Ärzte gegeben. Das habe ich dir damals nur nicht gesagt.  
 
Johann: Das wollte ich auch gar nicht wissen. In der Klinik denkt man sowieso nur an die Gegenwart: Jetzt fährt man zur Untersuchung, dann kommt die Nachtschwester. Oder man starrt an die Decke.   

 

Eva Burgmair / 53

Diagnose Eierstockkrebs 2002, 2006 Metastasen am Bauchfell

Jahre habe ich gebraucht, um mit dem Tod meines Mannes fertig zu werden. Er war mein Ein und Alles. Ein Jahr nach dem Ausbruch meines eigenen Krebses bekam er Magenkrebs bekommen und starb zwei Wochen nach der Diagnose in meinen Armen. Meine eigene Krankheit hatte ich in der Sorge um meinen Mann völlig vergessen. Nach seinem Tod dachte ich zunächst, dass ich selbst die Krankheit besiegt hätte. Doch im Mai 2006 entdeckte mein Arzt Metastasen am Bauchfell. Ein halbes Jahr, mit Chemotherapie maximal ein Jahr gab er mir damals noch zu leben. Eine Operation war nicht mehr möglich. Ich war am Boden und hatte weder Kraft noch Lust weiter zu kämpfen. Ich wollte zu meinem Mann.  
Dann kam ein Freund meines Mannes an mein Bett und sagte: „Wenn Du in einem Vierteljahr im Sterben liegst, wirst du Dich ärgern, dass Du die Chemo nicht wenigstens versucht hast!“ Das hat gesessen. Ich beschloss, mich noch einmal mit Chemie vollstopfen zu lassen. Seitdem sind 18 Monate vergangen – ich lebe immer noch und es geht mir sehr gut. Andererseits konnten bei der Chemo nur 80 Prozent der Krebszellen abgetötet worden, 20 Prozent sind noch da. Ich muss abwarten und mich ständig untersuchen lassen. Sobald es kleinste Anzeichen gibt, dass der Krebs wieder wächst, muss man reagieren und die Chemo wieder aufnehmen. Ich sitze auf einem Pulverfass, von dem ich nicht weiß, ob es explodiert.  
Vor kurzem habe ich einige Dinge geregelt, weil ich nicht weiß, wie lange ich noch lebe. Ich habe eine Patientenverfügung gemacht, weil ich als Krankenschwester jahrelang gesehen habe, wie Menschen trotz ihrer Leiden noch künstlich am Leben gehalten werden, weil sie keine Verfügung unterschrieben haben. Auch meine Beerdigung ist durchgeplant. Ich werde in Jeans in einem hellen Sarg mit schwarzem Dreieck und roter Rose auf der Oberseite bestattet. Die Grabrede, die mir ein Freund halten wird, habe ich selbst verfasst. Es geht darin nicht um die große Trauer, sondern um einen Rückblick auf mein Leben. Auch meine eigene Todesanzeige habe ich formuliert: „Es war schön, hier gewesen zu sein, Eure Eva.“ Aber ich hoffe, dass ich das alles erst in zwanzig Jahren brauche.

 

Hildegard Bauer / 83

Diagnose Kehlkopfkrebs 1994, Hautkrebs 2002

Früher habe ich alles für meinen Mann gemacht, aber nach der Behandlung meines Kehlkopfkrebses vor zwölf Jahren konnte ich über ein Jahr noch nicht einmal reden. Auch ansonsten war ich sehr schwach. Doch mein Mann wollte nicht akzeptieren, dass seine Partnerin nicht mehr dieselbe war wie vor der Krankheit. Ich hätte aber jemanden gebraucht, der mich ernst nimmt und zulässt, dass ich schwach bin. Nach vier Jahren habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin ich ausgezogen – nach 55 Jahren Ehe. Ohne den Krebs wäre ich bei meinem Mann geblieben. Ich glaube, dass mir erst die Krankheit die Kraft gegeben hat, an mich zu denken.  

 

Stefanie Mahler* / 38

Diagnose Brustkrebs im Dezember 2006

Hunderte Brustkrebspatientinnen habe ich als Ärztin selbst operiert. Ich habe Knoten entfernt, Brüste verkleinert oder ganz entfernt. Viele haben ihre Chemotherapie von mir bekommen, einige von ihnen habe ich sterben gesehen. Doch jeden Abend ging ich heim und dachte mir: Ein Glück, dass ich abends die Tür zur Klinik zumachen und alles hinter mir lassen kann. Doch seit einem Jahr habe ich selbst Brustkrebs. Auf einmal sitze ich auf der anderen Seite, auf dem Stuhl, auf dem ich nie sitzen wollte, und liege in dem Bett, in dem ich nie liegen wollte. Das ist ein furchtbares Gefühl. Ich leide plötzlich an der Krankheit, auf die ich mich all die Jahre spezialisiert hatte. Ich hörte die Diagnose und in meinem Kopf liefen alle möglichen Krankheitsszenarien ab. Auch heute noch habe ich nur einen Gedanken, wenn es mich irgendwo zwickt: Metastasen. Einmal bekam ich Nasenbluten und dachte sofort an eine Lebermetastase. Auf der Stelle bin ich in die Klinik und ließ mich von meinen Kollegen untersuchen. Ich glaube, dass ich wesentlich schlimmer auf irgendwelche Schmerzen reagiere als normale, unbedarfte Patienten. Ich habe wirklich Angst davor, dass mein Krebs zu streuen beginnt. Denn leider ist dies bei Brustkrebs sehr häufig der Fall.  
Es ist ein komisches Gefühl, in der eigenen Klinik plötzlich Patientin zu sein. Die Kollegen werden zu Ärzten oder Therapeuten. Aber gleichzeitig wollte ich überall mitreden. Bevor mir mein Chef eine Brust entfernt hat, haben wir die Operation bis ins kleinste Detail besprochen. Einen Freund von mir habe ich für die Narkose ausgesucht. Ich wollte mich von den besten Leuten operieren und betreuen lassen. Nach der Operation und während der Chemo war ich nur auf meinem Zimmer. Ich wollte nicht in den Fluren herumlaufen und auf Patientinnen treffen, die ich selbst kurze Zeit davor operiert hatte. Ich wollte nicht fragend angestarrt werden, ich bin doch ihre Ärztin.  
Bald fange ich wieder zu arbeiten an, irgendwann werde ich auch wieder mit Krebspatientinnen zu tun haben. Ich habe aber nicht vor, ihnen von meiner eigenen Erkrankung zu erzählen. Das ist unprofessionell. Ein Arzt lässt den Patienten reden und muss versuchen, dabei möglichst neutral und objektiv zu sein. Deshalb sollte man seine eigenen Emotionen nicht ins Gespräch mit Patienten bringen. Aber ich kann nicht ausschließen, in eine Situation zu geraten, in der ich als Mensch reagiere und einer Patientin von meinem Schicksal erzähle, wenn sie Angst vor der Operation oder der Chemo hat.  
So schrecklich die Krankheit auch ist – für mich als Ärztin ist es auch hilfreich selbst zu erleben, was Krebspatienten durchmachen. Manchmal wartet man tagelang auf das Ergebnis einer Untersuchung. Erst dann weiß man, ob man Krebs hat oder nicht, ob man sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzen muss oder nicht, ob das eigene Leben noch lange dauern wird oder nicht. Die Wartezeit hat oft praktische Gründe. Der behandelnde Arzt ist im Urlaub oder auf einem Kongress, aber der Befund liegt in seinem Fach. Diese Stunden und Tage der Ungewissheit sind für die Patienten wie eine Folter – und das machen wir Ärzte uns oft nicht bewusst. Deshalb werde ich alles dran setzen, dass meine Patientinnen künftig das Untersuchungsergebnis so früh wie nur irgendwie möglich erfahren.  


* Namen von der Redaktion geändert