Revolutionär und Menschenfeind
Er führt germanische Heldensagen als Opernstücke auf, kämpft bei der Märzrevolution für die Demokratie und verachtet das Judentum. Vor 200 Jahren wird Richard Wagner geboren - der umstrittenste Komponist aller Zeiten
P.M. History - Juni 2013
von Mauritius Much
Am Abend des 28. August 1850 ist das Weimarer Hoftheater trotz doppelter Eintrittspreise bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Hof um Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach findet sich in den Logen ebenso ein wie die Spitzen des Bürgertums. Aber auch auswärtige Prominenz lässt sich die Uraufführung von Richard Wagners Lohengrin an Goethes 101. Geburtstag nicht entgehen: der deutsche Komponist und Star der Pariser Grand Opéra, Giacomo Meyerbeer, oder die Schriftstellerin Bettina von Arnim. Aus Paris und London sind die bekannten Kritiker Jules Janin und Henry Chorley angereist. Nach und nach suchen sie ihre Plätze in der Oper auf, tuscheln, sind gespannt auf das große Ereignis.
Doch der Meister fehlt an diesem Abend. Das Orchester im Hoftheater dirigiert nicht Richard Wagner selbst, sondern sein Freund und späterer Schwiegervater Franz Liszt. Denn ein Jahr zuvor hatte Richard Wagner am Dresdner Maiaufstand im benachbarten Sachsen teilgenommen und musste nach dessen Niederschlagung in die Schweiz fliehen. Deshalb saß der steckbrieflich gesuchte Musiker gespannt ab 18 Uhr im Hotel „Zum Schwanen“ in Luzern. Mit der Uhr in der Hand soll er in Gedanken Szene um Szene mitdirigiert haben und dabei ein wenig schneller als Liszt gewesen sein.
Den Text für den Lohengrin hatte Wagner, der als einer der ersten Komponisten die texte für seine Opern (Libretti) selbst schrieb, schon 1845 verfasst – mit den Grundzügen der Musik im Kopf. Von Mai 1846 bis April 1848 komponierte er dann die Oper. Dabei hatte er eine ungewöhnliche Vorgehensweise: Er beginnt mit dem dritten Aufzug und arbeitet sich dann Akt für Akt nach vorne. Auf den Stoff zu der Geschichte war er bereits im Winter 1841/42 in Paris gestoßen: Der Gralsritter und Parzival-Sohn Lohengrin entsteigt als "unbekannter Retter" einem Schwanenboot und verteidigt die Herzogstochter Elsa von Brabant gegen den Vorwurf des Brudermordes, dann nimmt er sie zur Frau. Am Ende aber verlässt er sie, weil sie ihn trotz seiner eindringlichen Warnung nach seiner wahren Identität fragt. Dass sie dieses niemals dürfe, hatte Lohengrin zur Bedingung für seine Hilfe gemacht. Elsa stirbt schließlich an Erschöpfung, während ihre totgeglaubter Bruder wieder zurückkehrt - er wurde von der machtbesessenen Ortrud in einen Schwan verwandelt. Ortrud ist die Frau des Grafen Telramund, der seit dem Verschwinden von Elsas Bruder Gottfried die Fürstenwürde über Brabant für sich beansprucht. Mit Gottfrieds Rückverwandlung sinkt Ortrud tot zu Boden, und Lohengrin kehrt zurück ins Reich der Gralsritter.
Für das Libretto diente ihm vor allem der letzte Abschnitt von Wolfram von Eschenbachs Mittelalterepos "Parzival" als literarische Quelle. Ohnehin bedient er sich schon seit dem "Fliegenden Holländer" ausschließlich deutscher oder nordischer Mythen wie dem "Nibelungenlied" oder der Edda-Sage. „Wagner war ein fleißiger Leser. Er kannte sich nicht nur in der deutsch-germanischen Sagenwelt aus, sondern war auch in der altgriechischen Tragödie zuhause“, sagt Martin Geck, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Es überrascht deshalb nicht, dass er sich für das Frageverbot im Lohengrin vom antiken Mythos von Zeus und Semele inspirieren ließ, bei dem der Göttervater in Menschengestalt mit Semele den Dionysos zeugt. Auf ihre Bitten zeigt er sich ihr schließlich als Gott, woraufhin sie der Blitz trifft.
Mit dem Lohengrin hat sich Richard Wagner bereits weit von der Nummernoper seiner Tage entfernt. Dort sind Arien, Chorpassagen oder Sprechgesänge (Rezitative) noch klar voneinander getrennt. Nach jeder dieser Nummern können die Zuschauer applaudieren und sogar deren Wiederholung fordern. Dagegen hat Wagner seinen Lohengrin fast schon komplett durchkomponiert: Ohne Unterbrechung folgen die Szenen aufeinander, lediglich einzelne Teile wie Lohengrins Erzählung vom Gral erinnern noch an klassische Arien. Auch weist der Komponist seinen Hauptfiguren bereits charakteristische musikalische Leitmotive zu. Sie bestehen aus wenigen Takten oder gar nur einem einzigen Mehrklang und wiederholen sich im gesamten Werk. Sobald etwa Lohengrin auftritt, ertönen festliche Trompeten in A-Dur. Bei Elsa spielen Oboen ihr Motiv in einem verhaltenen As-Dur, bei ihrer intriganten Gegenspielerin Ortrud übernehmen dies tiefe Streicher in düsterem Fis-Moll.
Vom Lohengrin fehlt nicht mehr viel zur Perfektion der Leitmotivtechnik, die Wagner in "Der Ring des Nibelungen" erreicht, wo unzählige Motive zur Beschreibung von Personen oder dramatischer Situationen eingesetzt werden. Im Ring hat Wagner auch das Konzept eines vollkommen durchkomponierten musikalischen Dramas umgesetzt, das er theoretisch bereits in seiner Schrift Oper und Drama von 1850/51 entworfen hatte.
„Alle Künste: Musik, Dichtung oder Schauspielkunst sind nun Mittel zum Zweck des Gesamtkunstwerks – und das ist bei Wagner das Drama“, sagt Dieter Borchmeyer, Professor für Neue Deutsche Literatur an der Universität Heidelberg und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. „Damit wollte er die Oper revolutionieren.“ Das ist ihm auch gelungen. „Die Oper nach Wagner ist definitiv etwas anderes“, sagt Tobias Janz, Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. „Um 1900 arbeiteten sich sehr viele Opernkomponisten an Wagners Konzept des Musikdramas ab. Spätestens da wird der gewaltiger Einfluss, den er auf die Musikgeschichte hatte, deutlich.“
Um die Jahrhundertmitte revolutioniert Wagner aber nicht nur die Oper, sondern kämpft auch für den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung. Schon seit den 1830er Jahren steht er der Literatenbewegung des Jungen Deutschlands, die sich gegen Zensur und für demokratische Grundrechte einsetzt, nahe. In den 1840er Jahren beschäftigt er sich mit frühsozialistischen Ideen, in seiner Zeit als Hofkapellmeister in Dresden (ab 1842) pflegt er eine Freundschaft mit dem Komponisten und Sozialisten August Röckel und dem Anarchisten Michail Bakunin an – beide führten den Dresdner Maiaufstand 1849 an.
Während der Revolution von 1848/49 ruft Wagner in mehreren Reden und Artikeln zum Kampf gegen die bestehende Ordnung auf und fordert die Abschaffung der Adelsprivilegien, die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, die Volksbewaffnung und die Umwandlung Sachsens in eine parlamentarische Monarchie. Als der Dresdner Aufstand losbricht, wird Wagner gar zum Revolutionär: Er verteilt nicht nur Aufrufe zur Fahnenflucht an königstreue Soldaten und berichtet als Kundschafter vom Turm der Kreuzkirche vom Vorrücken der preußischen Truppen, sondern besorgt auch Handgranaten und Gewehre.
„Seine politischen und musikalischen Radikalisierungen gehen in den 1840er Jahren Hand in Hand und schaukeln sich gegenseitig hoch“, sagt Dieter Borchmeyer. Den Schlüssel dafür sieht er in Wagners Pariser Jahren. Als er von 1839 bis 1842 n der Metropole wohnt, lebt er in so elenden Verhältnissen, dass er mit einem Stock Nüsse von den Bäumen schlagen muss, um etwas zu essen zu haben. Zudem bekommt er keinen Zugang zur Grand Opéra und den meisterhaften Inszenierungen, die dort aufgeführt werden. Dadurch habe sich seine Anti-Haltung entwickelt – sowohl gegen die vorherrschenden politischen Verhältnisse als auch gegen die Grand Opéra.
Auch sein Antisemitismus, den Wagner erstmals 1850 in seiner Schrift „Das Judenthum in der Musik“ öffentlich äußert, dürfte in Paris entstanden sein. Dort dominierten jüdische Komponisten wie Giacomo Meyerbeer eine Opernwelt, die ihm versperrt blieb. „Vordergründig hatte es Wagner auf seine erfolgreichen Konkurrenten Mendelssohn und Meyerbeer abgesehen, die ihm wie ,Musikbankiers’ erschienen. Generell betrachtet lud er aber den Hass, den er auf die moderne, in seinen Augen verrottete Gesellschaft insgesamt hatte, bei den Juden ab“, sagt Martin Geck.
Inwieweit seine politische Radikalisierung seine Werke beeinflusste, ist umstritten. Es dürfte jedoch kein Zufall sein, dass im Lohengrin ausgerechnet die Figur des mittelalterlichen Sachsenkönigs Heinrich I. auftaucht, der bis ins 20. Jahrhundert als der Gründer des deutschen Reiches galt – und das kurz vor Ausbruch der Revolution, in der die Forderung nach einer Vereinigung Deutschlands eine zentrale Rolle spielen sollte. „Wagner verleiht König Heinrich ideale Züge“, sagt Professor Borchmeyer. „Das kann man schon als Projektion seiner politischen Vorstellung eines überparteilichen Monarchen verstehen.“ Im Laufe des Stücks wird Lohengrin selbst zum Herrscher – hier schimmert Wagners Vorstellung eines Fürsten, der durch das Volk erhoben wird, durch. Auch sein Hauptwerk lässt sich politisch lesen: „Der Ring des Nibelungen ist eine Allegorie der modernen Gesellschaft und ihrer Probleme“, sagt Professor Janz. „Es geht die ganze Zeit um Macht, das zentrale Thema der Politik.“
Aber nicht nur bei Wagner, sondern auch bei anderen Komponisten sind gerade vor 1848 politische Einflüsse spürbar. „Vor allem in der französischen Grand Opéra werden in der Folge der französischen Revolution politische Strömungen aufgenommen“, sagt Tobias Janz. Laut Martin Geck gingen etwa Meyerbeers Opern von historischen Stoffen wie den Hugenotten im Frankreich des 16. Jahrhunderts aus und verfolgten das Ziel, den Hörern einen Spiegel vorzuhalten: „So waren die gesellschaftlichen Zustände früher, so sind sie heute. Das konnte zu Gunsten oder zu Ungunsten der Gegenwart ausgehen.“
Jedoch konnten Opern auch politischer interpretiert werden, als sie eigentlich gedacht waren. So stürmten die Besucher von Daniel-François-Esprit Aubers Die Stumme von Portici aus der Aufführung in Brüssel und lösten 1830 eine Revolution in Belgien aus, die zur Unabhängigkeit von den Niederlanden führen sollte. „Dabei fordert Auber keine Revolution, sondern wollte sie bloßstellen“, sagt Professor Borchmeyer. Auch Giuseppe Verdi ist wesentlich unpolitischer gewesen, als es die spätere Stilisierung des Gefangenenchores in Nabucco zur heimlichen Nationalhymne Italiens durch die Einigungsbewegung vermuten lässt.
Eine Revolution wollen die Weimarer Besucher der Lohengrin-Premiere nicht anzetteln, als sie das Hoftheater verlassen. Im Gegenteil, viele sind schon nach dem 2. Akt nach Hause gegangen. Auch die übrigen Reaktionen der Zuschauer sind zurückhaltend: Die meisten sind wohl erschöpft, schließlich hatte die Oper 75 Minuten länger gedauert als angekündigt, andere sind mit Wagners neuartigem Opernstil überfordert. Außerdem haben die Hauptrollen nicht Stars wie Sopran Wilhelmine Schröder-Devrient oder Tenor Joseph Tichatschek, die zuvor schon Rienzi und Tannhäuser zum Erfolg verholfen hatten, übernommen, sondern die damals unbekannten Solisten Carl Beck und Rosa Agthe von Milde.
Die zurückhaltenden Reaktionen in Weimar sind allerdings nichts gegen den Skandal, den Tannhäuser in Paris im März 1861 auslöst: Weil Wagner sich weigerte, ein Ballett in den zweiten Akt einzubauen, wie es die einflussreichen Mitglieder des vornehmen Jockey Clubs gefordert hatten, pfeifen sie die Oper so lange aus, bis Wagner sie nach vier Aufführungen zurückzog. Auch erscheint den Franzosen die Musik viel zu neuartig. Ohnehin stört sich der Komponist zeitlebens an den laxen zeitgenössischen Auffassungen von einem Opernbesuch. „Richard Wagner wollte eben nicht, dass Oper Unterhaltung und ein gesellschaftliches Event, sondern ein Kunstwerk höchsten Anspruchs ist“, sagt Tobias Janz. „Das Publikum sollte still sitzen und zuhören.“
Dagegen ist es damals üblich, sich während der Opernaufführung zu unterhalten, die Logen zu verlassen oder erst zum zweiten Akt zu betreten, weil etwa die Mitglieder des Jockey Clubs vorher zu Abend aßen. Auch finden die Opern damals meist in Theatern, in denen die Logen für die Aristokratie und das Bürgertum dominieren, statt. Der Zuschauerraum ist beleuchtet, damit man nicht nur das Libretto lesen, sondern auch die schönen Kleider vorzeigen kann. Erst Wagner verdunkelt in Bayreuth den Zuschauerraum und lässt das Festspielhaus wie ein kreisförmiges, ansteigendes Amphitheater ohne Logen konzipieren. „Damit sollte sich das Publikum voll auf das Werk konzentrieren – nicht mehr in einem hierarchisch geprägten Logentheater, sondern gewissermaßen in einer klassenlosen Gesellschaft“, sagt Professor Borchmeyer. Für König Ludwig II. von Bayern lässt Wagner dennoch eine Loge einbauen. Denn politisch waren seine Zeiten als Revolutionär nach 1849 zu Ende.
Nicht zuletzt mit dem Opernhaus in Bayreuth und den jährlichen Festspielen dort schafft es Richard Wagner bis heute, eine Faszination auszuüben. „Dazu trägt aber an erster Stelle die überragende künstlerische Qualität seiner Werke bei“, sagt Professor Janz. Hinzu komme seine wechselhafte Wirkungsgeschichte bis hin zur Vereinahmung durch die Nationalsozialisten sowie seine widerspruchsvolle Persönlichkeit, meint Dieter Borchmeyer: „Er ist eine Mischung aus Revolutionär und Reaktionär. Damit verkörpert er das 19. Jahrhundert in seiner ganzen Vielschichtigkeit.“