Moby Dünn

 

„Moby Dick“, „Anna Karenina“ und „Jahrmarkt der Eitelkeit“ sind abschreckend dicke Bücher. Ein englischer Verlag bringt stark gekürzte Versionen der Klassiker heraus. Gail Paten, die zuständige Lektorin, findet sie tatsächlich besser als die Originale.

 

Neon / Februar 2008

 

Interview: Mauritius Much

 

Frau Paten, die Kritik an den gekürzten Klassikern war massiv. Von „Sakrileg“ und „kastrierten Tieren“ war die Rede. Trauen Sie sich noch auf die Straße?


Gerade die Menschen auf der Straße freuen sich, wie gut die gekürzten Klassiker zu lesen sind. Es war die britische Presse, die unsere Kompakteditionen angegriffen hat. Solche harten Vorwürfe sind aber unfair. Wir haben lange, weitschweifige Beschreibungen gekürzt, aber das Herzstück der Bücher unangetastet gelassen.

 

Wie kommt man denn auf die Idee, Dickens‘ „David Copperfield“ von 880 auf 410 Seiten einzudampfen?


Unser stellvertretender Geschäftsführer Malcom Edwards hatte die Idee, als er merkte, dass er seit der Schulzeit keinen Klassiker wie „Moby Dick“ von Herman Melville oder „Jahrmarkt der Eitelkeit“ von William Thackeray mehr in der Hand gehabt hatte. Lange Zeit hatte er sich gegen die alten Schinken gesträubt, weil er wie so viele Schüler gezwungen worden war, sie zu lesen. Jetzt hatte er zwar Lust auf Melville oder Thackeray, aber nicht mehr die Zeit.

 

Wie haben Sie die Bücher ausgewählt?


Die Lektoren saßen um einen Tisch herum, und jeder musste der Reihe nach sagen, welchen Klassiker er nie gelesen oder zu Ende gebracht hat. Es war lustig anzusehen, wie jeder gestehen musste. Der eine hatte „Moby Dick“ nie geschafft, obwohl er es ein paar Mal probiert hatte, der andere scheiterte an „David Copperfield“.

 

Und Sie?


„Anna Karenina“ von Leo Tolstoi.

 

Warum sind sie daran gescheitert?


Ich habe vielleicht die Hälfte gelesen, als ich an der Uni war. Aber dann legte ich den Roman zur Seite, weil ich ihn zu lang fand. So einen Wälzer muss man am Stück lesen. Wer ihn nur eine Woche in der Ecke liegen lässt, kommt schwer wieder rein.

 

Aber Dickens und Thackeray haben „David Copperfield“ und „Jahrmarkt der Eitelkeit“ als Fortsetzungsromane in Zeitschriften veröffentlicht. Sie wollten, dass der Leser nur langsam und in Abschnitten liest.


Aber sie waren auch Geschäftsmänner, sie wurden dafür bezahlt, eine bestimmte Anzahl von Wörtern pro Woche oder Monat abzuliefern. Sie schrieben nicht immer auf höchstem Niveau. Gerade in „David Copperfield“ wiederholt sich Dickens sehr oft oder schweift gerne ab. Diese Stellen haben wir gekürzt oder ganz gestrichen. Bei einem modernen Roman würde sich niemand überlegen, ob ein Lektor das Manuskript kürzen oder die Geschwindigkeit der Geschichte erhöhen darf.

 

Ihre Technik, die Klassiker zu trimmen, nennen Sie „sympathetic editing“, also „verständnisvolles Aufbereiten“. Wie funktioniert denn das?


Unsere Lektoren haben alle sehr viel Erfahrung. Sie arbeiten seit Jahren für Reader’s Digest oder an Audiokürzungen fürs Radio. Sie gehen Wort für Wort durch die Romane. Sie dürfen dabei nie ein neues Wort hinzufügen. In manchen Absätzen streichen sie nur ein Wort, ein anderes Mal nehmen sie einen ganzen Abschnitt, ein Kapitel, eine Figur oder eine Nebenhandlung raus.

 

Zum Beispiel?


Bei Moby Dick haben wir 41 von 135 Kapiteln gestrichen. Die Geschichte und die Mythologie des Walfangs mitsamt der altertümlichen Sprache und den Segelfachbegriffen sind raus gefallen. All das, was wir für uninteressant für ein modernes Publikum hielten. Hinter der langweiligen Beschreibung von Schiffen und Walfang steckt nämlich eine wirklich aufregende Geschichte.

 

Aus Moby Dick wird also ein reiner Abenteuerroman, der die Rache von Kapitän Ahab am weißen Hai erzählt.


Ich gebe zu, dass wir bei diesem Buch einem sehr ungewöhnlichen, rigorosen Ansatz gefolgt sind. Andere Bücher verdichten wir eher und versuchen, Personen und Nebenhandlungen nicht zu streichen.

 

Bei Anna Karenina fehlen gut 20 von 140 Figuren.


Dort gibt es viele lange Dialoge über die Gesellschaft, in die unwichtige Figuren verwickelt sind, die nicht wieder auftauchen. Solche Dialoge entfernen wir samt der kleineren Figuren. Das Herzstück des Buches bleibt: die klassische Liebesgeschichte.

 

Sie streichen 30 bis 40 Prozent eines Buches, manchmal mehr. Wie stellen sie sicher, dass Sprache und Stil des Autors gewahrt bleiben?


Unsere Lektoren sind absolut mit den Texten vertraut. Außerdem haben wir ja noch unseren akademischen Experten, der ein Spezialist für die Literatur des 19. Jahrhunderts ist, für viele Verlage und Universitäten gearbeitet hat und ein hohes Ansehen genießt. Er bekommt die gekürzten Versionen auf den Tisch. Er sagt, welche Wörter oder Sätze drin bleiben müssen, um die Authentizität und Qualität des Textes zu gewährleisten.‘ Dann folgen wir seinen Empfehlungen.

 

Müssen Sie oft nacharbeiten?


Ja. Er liest gerade die gekürzte Version von „Tess von den D’Urbervilles“ von Thomas Hardy, was wir bald veröffentlichen wollen. Er möchte, dass wir 4000 Wörter wieder einfügen, weil er sie für wichtig hält.  

 

Sie werben mit dem Slogan: „Großartige Bücher in der halben Zeit“. Kritiker sagen, dass die Bücher auch nur halb so gut sind.


Ich würde die Kritiker gern fragen, ob sie unsere Kompaktversionen überhaupt gelesen haben. Die Kritik geht eher gegen die Idee, Klassiker überhaupt zu kürzen. Wir finden, Kompakteditionen sind eine Marktlücke. Klassische Romane sind immer populär, was auch an den Verfilmungen liegt. Nehmen wir „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen. Der Film mit Keira Knightley in der Hauptrolle war extrem erfolgreich. Die meisten Leute, die ihn gesehen haben, haben nie das Buch gelesen. Und bei unseren Versionen bekommt der Leser ein viel größeres Gespür für Buch und Autor.  

 

Kann ich in ein paar Jahren eine Kompaktedition kaufen, bei der Sie die sieben Bücher von Harry Potter auf 400 Seiten gekürzt haben?


Prinzipiell sehe ich keinen Grund dafür, warum wir es nicht irgendwann machen sollten. Es wird natürlich nicht leicht, weil bei vielen modernen Romanen ein Copyright gilt. Momentan haben wir genug damit zu tun, die älteren Werke zu kürzen.

 

Gibt es ein Buch, bei dem Sie persönlich nicht einen Buchstaben kürzen würden?  


Als Lektor kann man jedes Buch verbessern, aber es würde mir sehr schwer fallen, Jane Austen zu kürzen. Sie schreibt sehr dicht – ohne überlange Beschreibungen oder Abschweifungen. Sie hat einen Klassejob gemacht. 

 

Gail Paten ist Lektorin bei der Orion Publishing Group (orionbooks.co.uk). Der Verlag hat bereits zwölf Klassiker gekürzt – nach dem Motto: „Small – but perfectly formed“.