Mit tierischer Hilfe von der Straße

Martin Berrabah hat es seinen Haustieren zu verdanken, dass er nach Jahren der Obdachlosigkeit in ein geregeltes Leben in den eigenen vier Wänden zurückgefunden hat.

 

BISS - September 2016

 

Von Mauritius Much

 

Der Kratzbaum von Oskar und Felix ist riesig. Über mehrere Etagen windet er sich bis unter die Decke des Raumes, der Martin Berrabah als Wohn- und Esszimmer dient. Dort können sich die schwarzen Perserkatzen nach Herzenslust austoben. Heute ist das Brüderpaar aber faul. Der eine Kater schläft auf dem Schrank im Schlafzimmer, der andere liegt dösend auf dem Teppichboden unter dem Fenster. Doch der Schein trügt. Wenn die beiden elfjährigen Kater wollen, jagen sie sich durch die Wohnung oder springen auf die verschiedensten Möbel. Nicht zufällig hat Martin Berrabah außen an seinen Fenstern Stoffnetze befestigt, damit er sie jederzeit öffnen kann, die Katzen aber nicht abhauen.


In der Wohnung, die der BISS-Verkäufer davor hatte, durften die Kater noch nach draußen. Doch dann war plötzlich einer der Brüder zwei Wochen lang verschwunden, bis er schließlich wieder auftauchte. Womöglich wäre nun eine Katze für immer weg, sollte das noch mal passieren. Das möchte Martin Berrabah nicht erleben, deshalb das Netz vor den Fenstern. Denn zu viel hat er den Tieren zu verdanken. „Sie haben mich von der Straße geholt“, sagt er ernst. „Ohne sie hätte ich keinen Grund gehabt, nach Hause zu kommen.“


Jahrelang war Berrabah obdachlos gewesen. Er schlief im Freien oder Notunterkünften, einen geregelten Tagesablauf kannte er nicht mehr. Er musste nirgendwo zu einer bestimmten Uhrzeit sein, er war für niemanden verantwortlich. Für ihn gab es nur die Straße und den Verkauf der BISS-Ausgaben. Doch nun hatte ihm sein Arbeitgeber eine Wohnung besorgt. Zum zweiten Mal. Doch die ersten vier Wände hatte Berrabah bald wieder verlassen und war auf die Straße zurückgekehrt. „Wer jahrelang kein eigenes Heim hat, lebt in einem völlig anderen Rhythmus“, sagt Berrabah. „Es fällt einem schwer, aus dieser Routine wieder auszubrechen.“ 


Er brauchte etwas, worum er sich kümmern konnte. Eine Aufgabe, die ihn regelmäßig in seine neue Wohnung zurückzwang und so an das alltägliche Leben in den eigenen vier Wänden gewöhnte. In dieser Situation erzählte ihm ein Stammkunde von seiner trächtigen Katze. „Komm doch mal vorbei, wenn die Jungen da sind“, sagte er zu Berrabah. Kurze Zeit später sah er die beiden winzigen schwarzen Fellknäuel zum ersten Mal. Da war es um ihn geschehen. Er nahm Oskar und Felix zu sich in die Wohnung – und hatte nun das, wonach er suchte: Jemanden, den er versorgen konnte. Denn die kleinen mussten mehrmals am Tag gefüttert werden und das Katzenklo regelmäßig gereinigt.


Martin Berrabah halfen seine Katzen weg von der Straße. Das war vor elf Jahren. Aber auch für viele Obdachlose haben Tiere eine besondere Bedeutung. Sie sind Spielkameraden, treue Freunde und Familienersatz. Ob Hund, Katze oder sogar Krähe – viele Münchner, die auf der Straße leben, kümmern sich rührend um ihre tierischen Begleiter. An Fressen oder Streicheleinheiten lassen sie es nicht fehlen.  Diese Menschen lieben ihre Tiere sehr, manche sogar mehr als sich selbst. Viele haben ihr Leben komplett nach dem Rhythmus ihrer Lieblinge ausgerichtet.


Seine Tiere spielen auch für Martin Berrabah eine entscheidende Rolle. Denn neben den beiden Katern hat er seit neun Jahren auch noch einen Hund. Maja heißt die West-Highland-Terrier-Dame. Sie lernte er in einer U-Bahn kennen. Bei dem ehemaligen Zuchthund war nämlich gerade eine Epilepsie diagnostiziert worden, ihr Vorbesitzer wollte sie gerade ins Tierheim bringen – bis er Martin Berrabah traf. Der arme weiße Hund tat ihm leid. Aber er hatte zunächst Bedenken, ihn aufzunehmen. Wie würden seine Katzen darauf reagieren? Doch schließlich erbarmte er sich und nahm Maja mit nach Hause.


Die erste gemeinsame Nacht verbrachten Oskar und Felix noch auf dem Schrank - erst einmal Abstand halten zu dem neuen Mitbewohner. Doch schon in der zweiten Nacht krochen sie zu Martin Berrabah und Maja ins Doppelbett. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Die Katzen und der Hund kommen gut miteinander klar. Ich kann sie alleine in der Wohnung lassen. Da passiert nichts“, erklärt der Mann mit der Schiebermütze und lacht mit einem Hüsteln. Das ist das Markenzeichen des Bottropers, der sich mit zwanzig Jahren nach München aufmachte, um einen festen Job zu finden. Im Ruhrgebiet wurde damals eine Zeche nach der nächsten geschlossen. Die Chancen auf eine geregelte Arbeit standen dort schlecht. Doch auch in der bayerischen Landeshauptstadt, wo Berrabah seit 30 Jahren lebt, wollte es nicht so richtig klappen. Er landete auf der Straße, dann wurde er BISS-Verkäufer. Das macht er bis heute – seit neun Jahren ist Maja immer dabei. Morgens am Ostbahnhof, ab dem späten Vormittag bis abends in Neuperlach am PEP.


Doch jetzt liegt der West-Highland-Terrier auf der Couch zuhause in Thalkirchen. Martin Berrabah streichelt ihn, erst am Rücken, dann am Kopf. Maja schnauft sehr laut, dann steht sie auf. Ihr Herrchen hat verstanden: Er hebt sie vom Sofa auf den Boden. Langsam trottet der Hund hinüber zur Küchenzeile, wo die beiden Näpfe stehen. Das rechte Hinterbein zieht er nach. Vor vier Jahren hat sich Maja die Kreuzbänder an beiden Hinterpfoten gebrochen. „Ich bin schuld, weil ich sie immer vom Sofa und von Treppenstufen habe runterspringen lassen“, sagt Berrabah. Das linke Bein ließ er operieren. Doch Maja, die damals schon zehn Jahre alt war, erholte sich nur langsam. Wochenlang konnte sie nicht gehen, musste überall hin getragen werden. Eine zweite OP wollte ihr das Herrchen nicht mehr zumuten, also hinkt sie mit dem rechten Hinterbein.


Die alte Hundedame schlabbert Wasser aus einem der Näpfe, dann legt sie sich auf den Küchenboden. Plötzlich fängt sie an zu husten. Berrabah springt sofort vom Wohnzimmerstuhl auf, nimmt den Hund in seine Arme und klopft ihm vorsichtig auf den Rücken – wie das sonst Eltern bei ihrem Kind machen, wenn es sich verschluckt hat. „Ist gut“, sagt er beruhigend und streichelt Maja, „ist gut.“ Wie ein Vater wacht Martin Berrabah über seinen Terrier. Denn neben gelegentlichen epileptischen Zuckungen und dem hinkenden Bein leidet Maja auch an Nebennierenkrebs. „Dadurch produziert ihr Körper zu viel Kortison, weshalb sie nicht abnehmen kann“, erklärt das Herrchen. Daher dürfe sie nicht mehr als 110 Gramm pro Tag fressen, damit der ohnehin schon wohlgenährte Hund nicht noch mehr an Gewicht zulegt. Der Futternapf wird deshalb nur abends gefüllt. Auch wenn Stammkunden ihr tagsüber mal ein Stück Pute schenken, dann bekommt Maja es erst zuhause serviert.


Plötzlich piept es an der Küchenzeile. Und dann noch mal: "Piiiiip." Es ist die Waschmaschine. Martin Berrabah legt Maja auf die Couch und holt jede Menge Handtücher und Spannbettlaken aus der Maschine. Er trägt die frische Wäsche zur Schlafzimmertür, an der er eine Kleiderstange befestigt hat. Dort hängt er die nassen Sachen auf. "Ist alles für die Katzen und Hunde ‒ vor allem für Oskar", erklärt er. Denn der Kater uriniert nicht immer auf dem Katzenklo, sondern gern mal auf der Couch oder im Bett. Martin Berrabah vermutet, dass Oskar gern mehr Aufmerksamkeit hätte, doch das Herrchen hat eben drei Tiere, die alle ihre Streicheleinheiten brauchen. "Aber soll ich ihn deswegen weggeben? Das geht doch nicht, gerade weil ich seinem Bruder und ihm so viel zu verdanken habe", sagt der Mann mit der Schiebermütze. Die Katzen und der Hund sind seine Familie geworden. Die reißt man nicht so einfach auseinander.


"Ich habe meine Tiere lieber als viele Menschen", gibt Berrabah zu. "Sie sind treuer und verstehen mich besser." Deshalb kümmert er sich sehr um sie. Das hat den BISS-Verkäufer geprägt. Vor einiger Zeit traf er einen Bekannten wieder. Der hatte noch den alten Martin Berrabah, der auf der Straße lebte, vor Augen. Nun sah er ihn mit einem West-Highland-Terrier wieder. Er sagte zu Berrabah. "Der Hund tut dir gut, er hat dich sehr verändert. Du bist heute viel ruhiger und ausgeglichener."

 

Dass Berrabha die Haustiere gut tun, überrascht nicht. In der Psychologie gibt es viele Studien, die den positiven Einfluss von Tieren auf ihre Besitzer belegen: Einsame Menschen haben einen Gefährten, um den sie sich kümmern können. Schüchterne finden schneller Anschluss zu anderen Menschen, weil die Tiere als Eisbrecher funktionieren. So erkundigen sich Nachbarn in einem anonymen Hochhaus schon mal, wie es denn der Katze oder dem Hund im ersten Stock gehe.


Auch Martin Berrabah gewinnt nicht wenige Kunden durch Maja, die ihn zum Verkaufen stets begleitet. Dorthin wollen sich die beiden nun aufmachen. Dazu hebt er seine Hundedame vorsichtig in eine graue Kiste. Sie ist mit Spanngurten an einem Rollator befestigt und mit Handtüchern weich ausgepolstert. Als Gegengewicht hängt hinten am Rollator eine Tasche runter. Sie ist voller Biss-Zeitungen, die er gleich verkaufen will. Gehen sie am Monatsende zur Neige, packt er Futterdosen in die Tasche. Den Rollator hat er für Maja nach ihrer Kreuzband-OP gekauft und umgebaut. "Den hat sie sich verdient. Denn es gibt keinen zweiten Hund auf der Welt, der so treu ist wie sie", meint Martin Berrabah. Wenn sie mittags in Neuperlach Gassi gehen und sie ein paar Schritte von ihm weg trottet, dreht sie sich ständig um. Sie will sich vergewissern, dass er auch ja nachkommt.


Dem Herrchen ist klar, dass Maja nicht mehr lange bei ihm sein wird. Durchschnittlich werden Hunde 15 Jahre ‒ seine Gefährtin hat dieses Alter fast erreicht und zudem mehrere Krankheiten. Sollte es irgendwann so weit sein, wird er sie einäschern lassen. Ein Halsband mit ihren Namen wird dann ihre Urne zieren. Das hat er bereits gekauft. Ob sich Berrabah danach wieder einen Hund nehmen wird, weiß er noch nicht. "Wenn es sein soll, wird es sich ergeben", sagt er. Wie damals, als er Maja auf dem Weg zum Tierheim kennenlernte. Dann öffnet er die Tür, schiebt den Wagen nach draußen und macht sich auf den Weg zum Ostbahnhof. Zur Arbeit.