Maria, ihm schmeckt's ...!
Rund um Alba vertrauen viele Restaurants auf die eigene Familie. Da arbeiten dann alle Generationen zusammen, aber meistens gibt die Mamma den Ton an. Zum Glück
ADAC reisemagazin Nr. 130 - Südliches Piemont - September/Oktober 2012
Text: Mauritius Much
Wer eine kochende italienische Mamma wie aus dem Bilderbuch sucht, findet sie zum Beispiel in Murazzano. Schon als Jugendliche half Silvana Pelleri ihrer Mutter Elena, nach der auch die Trattoria da Lele benannt ist, in der Küche. Das ist nun 36 Jahre her. Seitdem rührt Silvana dort sechs Tage die Woche die Sauce für das Vitello tonnato aus selbst gemachter Mayonnaise, Thunfisch und Kapern an. „Das Kochen ist mein Leben“, sagt Silvana. Eine Speisekarte gibt es nicht, bei der Gemüseernte im Garten hinter dem Haus entscheidet Silvana morgens, was auf den Tisch kommt.
Seit ihrer Gründung 1933 ist die Trattoria fest in Familienhand, und das soll auch so bleiben. „Niemand kann den Job so machen wie wir zusammen“, sagt Silvana. „Jeder muss bei uns mit Leidenschaft das tun, was er wirklich kann, sonst funktioniert es nicht.“ Dann geht sie zur Küchentür und rüffelt lautstark ihren Bruder Franco, weil der beim Schwatzen die Vorspeisenteller auf den Tischen vergisst, obwohl die dampfenden Bandnudeln, Tajarin al ragù, längst warten. Offiziell führt sie das Restaurant gemeinsam mit ihrem Bruder, doch der wahre Chef ist sie. „Silvana ist der Motor, ich bin nur ein Rad“, gibt Franco zu. Die anderen Räder sind seine Frau Patrizia, seine Tochter Chiara und Silvanas Tochter Elena.
Solche Familienrestaurants finden sich oft in den Langhe und im Roero. Mal eine Großfamilie wie die Pelleris, mal führen Mutter, Vater und Kind das Lokal, mal kümmern sich Geschwister um Küche und Gäste. Dass viele Lokale von engen Verwandten geführt werden, verwundert in Italien nicht. Denn dort spielt La Famiglia immer noch eine sehr große Rolle. Das jahrhundertealte Ideal einer Sippe, die zwar manchmal leidenschaftlich streitet, aber in schlechten Zeiten fest zusammen hält, ist dort dominanter als anderswo. Soziologen führen das darauf zurück, dass Italien wesentlich länger landwirtschaftlich geprägt war als etwa Deutschland.
Die Brüder Ugo und Piero Alciati führen seit zehn Jahren das Ristorante Guido in Pollenzo, das in vielerlei Hinsicht das komplette Gegenteil der Trattoria da Lele darstellt: Das Restaurant hat einen Michelin-Stern und interpretiert die traditionelle piemontesische Küche neu: So legt Ugo die Zutaten für die farbenfrohe Vorspeise Trota del Canavese nicht mehr tagelang ein, sondern frittiert die Forelle und fügt dann auf dem Teller Eigelb sowie pürierte Rote Bete und Zucchini hinzu. Untergebracht ist das Lokal in der Agenzia, einem imposanten Bau auf einem früheren Landgut der savoyischen Könige. Trotzdem haben die Aliciatis eine ähnliche Einstellung zur Familie wie die Pelleris. „Auf meinen Bruder kann ich mich hundertprozentig verlassen“, sagt Piero, der für den Service zuständig ist. „Ich weiß, dass er perfekt kocht, er weiß, dass ich perfekt bediene.“ Ein Lokal ohne den Bruder kann er sich nicht vorstellen. Ist aber auch nicht nötig.
Lässig streut Ugo aus dem Handgelenk etwas Mehl auf den goldgelben Teig der Pasta al’Uovo, der Eiernudeln. Dann drückt er die Fleischfüllung in kleinen Kugeln auf den Teig, klappt ihn zusammen, schneidet einzelne Pastastücke aus und schließt sie blitzschnell mit Daumen und Zeigefinger. Als ob er die fertigen Agnolotti zwicken würde. „Die Hände sind das Wichtigste. Man muss die Pasta spüren, damit sie gut wird“, sagt Ugo. Das hat er von seiner Mutter gelernt, nicht zufällig hängt eine Nahaufnahme ihrer Hand im Restaurant. Schon bevor er sprechen konnte, saß er in der Küche und probierte die Fleischfüllung. Oma und Mamma lasen an seinem Gesicht ab, ob sie gelungen war.
Wie Ugo Alciati ist auch Maria Piera Querio in Mammas Küche aufgewachsen. Mit sechs Jahren hat die heutige Köchin der Locanda dell’Arco in Cissone schon die Mayonnaise gerührt, weil die Mamma daran keinen Spaß hatte. Dafür lernte Maria Piera von ihr, wie man grüne Fettuccine mit Spargel, Zucchini, Haselnuss und schwarzem Trüffel oder den Ochsenschwanz in Barolo-Sauce zubereitet. Bis zum Tod ihres Mannes kochte sie für die Kinder einer Grundschule, 1991 eröffnete sie mit ihrem Cousin Giuseppe Giordano, der aus einer Restaurantfamilie stammt, die Locanda. Als Sommelier sucht er den passenden Wein aus, zum Ochsenschwanz öffnet er eine Flasche Sorì Martin. Dieser vollmundige Dolcetto-Rotwein stammt von seinem kleinen Weinberg, auf dem Trauben für 180 Flaschen im Jahr wachsen.
Seit fünf Jahren wirkt hier auch Maria Pieras Neffe Andrea. Die drei sind froh, in dieser Konstellation zusammenzuarbeiten. „Wären wir eine richtige Familie aus Vater, Mutter und Kind, würden wir uns automatisch mehr streiten“, sagt Maria Piera. Private Probleme könnten die berufliche Zusammenarbeit leicht belasten – und umgekehrt. Andrea kocht, doch seine Tante ist der Boss in der Küche. Aber das stört ihn nicht, weil beide dieselbe Philosophie haben: Alle Zutaten stammen aus biologischem Anbau. Und: Radio, Fernseher und Handys sind in der Küche tabu. Auch sein Hund Goethe darf nicht rein, obwohl der sonst alles kriegt, was auf den Tischen übrig bleibt. Der kleine Mischling lief Andrea vor zwei Jahren zu, als er die „Leiden des Jungen Werther“ las.
Seit seiner Zeit an der Hotelfachschule dekoriert Andrea die traditionellen Gerichte seiner Tante mit Blüten oder Blumen. Ähnlich macht es Giovanna Bellino mit Rosenblättern. Allerdings kocht sie aus ihnen auch den Flan di Castelmagno con Crema alle Rose, ein warmes, süß-saures Antipasto aus Eiern, Käse und Sahne. Überhaupt kommt einem das Profumo delle Rose bei Sommariva Perno wie ein großer Rosengarten vor. Sogar das Pferd ist so weit wie möglich vom Haus entfernt unterbracht, damit sein Geruch nicht den Rosenduft des Agriturismo überdeckt. Die alten Schränke, Tische und Stühle im Restaurant sehen aus, als kämen sie direkt aus der Provence. Als Verehrer des Shabby Chic kaufen die gelernte Innenarchitektin Giovanna und ihre Tochter Elisa überall alte Möbel, reparieren und streichen sie. Manchmal färben sie auch nur eine alte Handtasche von Oma Teresa und lassen darin Rosen wachsen. Solche Spielereien machen hier den Charme aus.
Das Herz des Agriturismo schlägt jedoch in der Küche. Mit Nonna Teresa, Mamma Giovanna und Enkelin Elisa arbeiten dort Frauen aus drei Generationen. „Manchmal haben wir in der Küche die reinste Anarchie“, sagt Mamma Giovanna. „Trotzdem verstehen wir uns blind. Das merken unsere Gäste. Die kommen nicht nur wegen der Speisen, sondern auch wegen uns.“ Bald könnten sie noch eine mehr sein, denn Elisa ist im dritten Monat. An der Bauchform will die Nonna ablesen können, dass es ein Mädchen wird. Vor einem halben Jahr haben die drei Frauen Carlo in ihrem Haushalt aufgenommen. Der kräftige, junge Mann ist Elisas Freund und Vater des Kindes. Er kümmert sich um die Haselnusssträucher oder den Gemüsegarten, denn die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft ist den Bellino-Damen zu schwer geworden. „Sie haben mich von Anfang an wie einen Sohn behandelt“, freut sich Carlo. Nonna Teresa hatte ihn sofort in ihr Herz geschlossen, damit war die Entscheidung gefallen.
Ein Fremder war Marco Boschiazzo nicht, als sich Alessandra Bovio in ihn verliebte. Jahrelang arbeitete er als Koch im Restaurant ihres Vaters. Täglich reichte er ihr die zarte Tagliata di vitella (dünne Kalbfleischscheiben) mit schwarzem Trüffel, Parmesanspänen und Balsamico aus der Küche, Alessandra brachte sie den Gästen an den Tisch. „Anfangs konnte ich ihn gar nicht ausstehen, weil er nie den Mund aufbekam“, erinnert sie sich. Im Laufe der Jahre sprach er dann aber doch, und das auch immer öfter und länger. Ein Paar wurden die beiden erst, als Alessandra auf eine Niederlage von Juventus Turin wettete und unterlag. Deshalb musste sie den Koch in ein 3-Sterne-Restaurant einladen. Von dort kam sie mit leerem Geldbeutel und ihrem künftigen Ehemann nach Hause zurück.
Dass ein Angestellter plötzlich zum Familienmitglied wurde, war für den Clan kein Problem. „Er war ja schon lange die rechte Hand meiner Tante in der Küche“, erinnert sich Alessandra. Mittlerweile haben Marco und sie die Führung des Ristorante Bovio am Ortsrand von La Morra übernommen, wo man von einer großen Terrasse eine gute Aussicht auf die Hügel der Langhe hat. Zuvor hatten die Bovios mehr als 40 Jahre lang ein Lokal im Dorfzentrum betrieben, der Umzug fiel ihnen nicht leicht. „Aber Marco und ich wollten unser eigenes Restaurant haben, dabei jedoch die Familientradition fortführen.“
Immer häufiger taucht die achtjährige Elisa in der Küche auf und stellt einen Plastikhocker vor den Herd. „Papa, Wasser!“, befiehlt sie, sofort schüttet es Marco in den Topf mit Steinpilzrisotto, dann rührt sie es um. „Elisa liebt es, beim Risotto zu helfen“, sagt Alessandra. Sie soll aber später selbst entscheiden, ob sie das Restaurant übernehmen will. Denn das gehe nur, wenn die Arbeit richtig Spaß mache.
In der Trattoria da Lele sind die Pelleris schon einen Schritt weiter. Neffe Gabriele wird Silvanas Nachfolger. Außer ihm duldet sie ohnehin kein anderes Familienmitglied in der Küche. Der 14-Jährige besucht eine Kochschule, dann soll er Erfahrungen in anderen Restaurants sammeln. Später will ihm Silvana all ihre Geheimrezepte anvertrauen. Bereits jetzt rufen ihn alle nur noch „Lele“ – allein dank dem Spitznamen ist die Familientradition jetzt schon gewahrt.