Einer für Allah

 

Inmitten der Unmenschlichkeit von Guantánamo hat er sich mit einem Gefangenen angefreundet. Und trat zum Islam über. Der ehemalige Soldat TERRY HOLDBROOKS über Folter im Namen der Freiheit und grenzenlose Freundschaft

 

Neon / November 2009

 

 

Von Mauritius Much

 



Mr. Holdbrooks, fühlen Sie sich als Verräter?

 

Wie kommen Sie darauf?


Aktivisten der amerikanischen Rechten behaupten, dass Sie während ihres Dienstes in Guantánamo Ihre Kameraden verraten haben, indem Sie sich dort mit Terroristen angefreundet haben.

 

Mich plagen keine Gewissensbisse. In Guantánamo habe ich meine Arbeit als Wache getan und niemandem Umrecht zugefügt – weder meinen Kameraden noch den Gefangenen.

 

Und der Vorwurf, dass Sie sich, während Sie ihrem Land in der Army dienten, mit Leuten eingelassen haben, die das Militär als Terroristen bezeichnet?

 

Uns wurde ständig eingebläut, dass die rund 780 Gefangenen die bösesten Menschen der Welt sind. Inzwischen hat man mehr als 500 von ihnen freigelassen, weil sie unschuldig sind. Die Terrorismuspropaganda ist lächerlich. Aber  amerikanische Soldaten brauchen solche Parolen. Wer zur Army geht, muss eben nur fit und nicht intelligent sein.

 

Warum sind Sie zum Militär gegangen?

 

Nach der Highschool hing ich nur herum und trank jeden Abend. Irgendwann habe ich festgestellt, dass es so nicht weitergehen kann. Ich wollte Ordnung, Disziplin und Teamfähigkeit lernen, um mein Leben in den Griff zu kriegen.

 

Mit Hilfe des Militärs?

 

Ja, ich wollte nicht so enden wie meine Eltern. Die waren drogenabhängig und ließen sich scheiden, als ich sechs Jahre alt war. Also ging ich im Mai 2002 zur Militärpolizei.

 

Unterstützten Sie damals die Politik der Bush-Regierung und den Krieg gegen den Terror?

 

Ehrlich gesagt, mich hat das alles gar nicht interessiert. Schon am 11. September habe ich versucht, die ganzen Berichte im Fernsehen zu ignorieren. Auch mit Bushs Kampf gegen den Terror habe ich mich nicht beschäftigt. Und von einem Gefangenenlager namens Guantánamo hatte ich noch nie etwas gehört. Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwartet. 

 

Wie sah Ihr Alltag als Wache aus?

 

Wir wurden in drei Schichten eingeteilt – morgens, nachmittags und nachts. Es gab 26 Blocks mit je 24 Gefangenen, in denen ich arbeiten konnte. Zu Schichtbeginn  zählte ich alle Gefangenen ab. Danach servierte ich den Gefangenen das Essen durch Schlitze in der Zelle und führte sie zu den Duschen, in den Hof oder zu Verhören. Danach wischte ich den Flur vor den Zellen und säuberte den Block. Die ganze Zeit sollte ich im Blick haben, dass sich die Gefangenen nicht Zettel mit Botschaften weiterreichen.

 

Was passierte, wenn Sie sie dabei erwischten?

 

Wir konfiszierten die Zettel und bestraften die Gefangenen: Sie hatten dann mehrere Tage kein Recht mehr auf eine Dusche oder Papier und Stift oder Auslauf im Hof. Sie durften auch keine Bücher mehr lesen.

 

Wurden die Gefangenen auch misshandelt?

 

Ja, das konnte ich beobachten, wenn ich Gefangene zum Verhör führte und dabei an anderen Verhörräumen vorbeiging. Ich habe gesehen, wie Häftlinge bis zu zehn Stunden in Stresspositionen verharren mussten. Sie waren an Händen und Füßen gefesselt, und es sah aus, als säßen sie auf einem Stuhl. Allerdings hatten sie keinen Stuhl unter den Oberschenkeln, sie mussten das ganze Körpergewicht mit den Beinen tragen. Der Raum war dabei auf 10 bis 15 Grad Celsius heruntergekühlt und aus den Boxen kam extrem laute Industrial-Metal-Musik. Einmal sah ich auch das, was dann später in den Medien berichtet wurde: Eine Verhörspezialistin kam aus einem Raum. Sie war am Unterleib und an den Oberschenkeln rot, als hätte sie ihre Periode gehabt. Sie hatte aber „nur“ eine Blutkapsel zerdrückt. Vor Kameraden gab sie dann damit an, wie sie einen Gefangenen mit ihrem angeblichen Menstruationsblut  provoziert hatte.

 

Was haben sie gedacht, als sie das alles sahen?

 

Ich fragte mich, welcher Teufel uns ritt. Welche ach so wertvollen Informationen der Gefangenen rechtfertigen solche Misshandlungen?

 

Sie sagen „uns“. Haben sie selbst Gefangene misshandelt?

 

Nein, nie. Ich habe weder einen Koran bespuckt oder ins Klo geworfen noch einen Gefangenen geschlagen. Davor konnte ich mich drücken.

 

Wie?

 

Wenn ein Gefangener Widerstand gegen die Wachen leistete, konnte es passieren, dass fünf Soldaten in seine Zelle rannten und ihn verprügelten, die sogenannte „Emergency Response Force“. Theoretisch hätte ich mitmachen müssen. Dafür sind zehn Soldaten eingeteilt, aber nur fünf müssen in die Zelle. Wenn der Alarm kam, hab ich mir so lange Zeit gelassen, die gepanzerte Ausrüstung anzuziehen, dass die neun anderen Soldaten schneller waren.

 

Man konnte sich also dem Befehl entziehen, Gefangene zu misshandeln?

 

Ja.

 

Wie kamen Sie mit den anderen Soldaten zurecht?

 

Ich habe mich nur mit zwei Kameraden gut verstanden. Mit dem einen spielte ich nach der Arbeit oft Schach, mit dem anderen ging ich am Wochenende ins Kino. Mit den übrigen Soldaten kam ich überhaupt nicht klar. Denen ging es nur ums Saufen. Ich aber hatte in Guantánamo aufgehört zu trinken. Manchmal spielten sie auch Bowling oder sahen sich einen Porno an. Wir hatten einfach überhaupt keine Basis für ein Gespräch.

 

War das der Grund, warum sie sich stattdessen mit den Gefangenen anfreundeten?

 

Letztlich schon, aber anfangs sprach ich sie an, weil ich mir meinen Job erleichtern wollte. Viele von ihnen konnten kein Englisch. Also ließ ich mir von anderen Gefangen übersetzen, wie man bestimmte Sätze auf Arabisch sagt: „Isst Du heute?“ oder „Es ist Zeit, schlafen zu gehen“. Das machte den Alltag für mich und die Gefangenen einfacher. Denn in Guantánamo herrschen erbärmliche Zustände. Da wollte wenigstens ich ihnen ein wenig Respekt entgegenbringen. Sie waren ja nicht anders als ich: Sie trugen eine orange Uniform, ich eine grüne.

 

Waren die Gefangenen überrascht, dass Sie menschlich behandelten?

 

Anfangs. Aber es sprach sich schnell im Lager herum, dass ich die „nette Wache“ war. Im Gegenzug respektierten mich die Gefangenen und versuchten, meine Sprache zu lernen. Die meisten waren sehr intelligent und beherrschten bis zu fünf Sprachen: Arabisch, Paschtu, Urdu, Uigurisch und Französisch. Wir Soldaten konnten oft noch nicht mal richtig Englisch. Aber uns wollten die Vorgesetzten weismachen, dass die Gefangenen Terroristen und einfache Bauern sind. Da fragte ich mich: Wer ist denn hier eigentlich der dumme, einfache Bauer?

 

Worüber haben sie denn gesprochen?

 

Wir sprachen vor allem über die Vorgeschichte des Krieges gegen den Terror. Er begann ja nicht mit den Taliban, Al Kaida oder der US-Regierung, sondern vor Jahrzehnten, als Engländer und Franzosen den Nahen Osten kolonisierten. Ich redete mit den Häftlingen auch viel über den Islam und Geschichte oder die Kultur ihrer Heimatländer.

 

Gab es einen Gefangenen, mit dem Sie am häufigsten sprachen?

 

Ja, Häftling Nummer 590, Ahmed Errachidi aus Marokko. Im Lager hieß er nur der General.

 

Was faszinierte Sie an ihm?

 

Er war intelligent und charismatisch. Er strahlte eine große Autorität aus. Alle anderen Gefangenen respektierten ihn. Er konnte einen ganzen Block schnell beruhigen oder in Aufruhr bringen. Durch seine Ausstrahlung war er eine Art Sprachrohr der Gefangenen. Und er war sehr offen. In unseren langen Gesprächen saß ich oft vor seiner Zelle, und er stellte mir Fragen, damit ich herausfinden konnte, was richtig und was falsch im Leben ist. Dadurch hat er mir die Augen für vieles geöffnet.

 

Was für Fragen waren das?

 

Er hat mich gefragt, ob ich schon mal etwas vom Genozid der Türken an den Armeniern gehört hätte. Ich verneinte. Dann wollte er von mir wissen, warum in amerikanischen Schulbüchern oder Abhandlungen über den Ersten Weltkrieg nichts davon steht. Dadurch kam ich ins Grübeln und lernte, dass die amerikanischen Geschichtsbücher den Genozid wegen der engen türkisch-amerikanischen Beziehungen verschweigen. So kam ich zur Einsicht, dass ich in unserem amerikanischen Bildungssystem manche Dinge falsch oder gar nicht unterrichtet werden.

 

Würden sie Errachidi als Freund bezeichnen?

 

Definitiv. Seit er im Sommer 2007 aus Guantánamo freigelassen wurde und wieder in Marokko lebt, haben wir wieder Kontakt. Wir schreiben uns mindestens einmal die Woche Emails und telefonieren ab und zu. Unsere Freundschaft bedeutet mir mehr als alle Freundschaften zuvor. Wir können über alles sprechen. Über ernste Glaubensthemen, aber auch über Belangloses im Alltag.

 

Sie mussten erst als Wache nach Guantánamo kommen, um ihren besten Freund kennen zu lernen – einen Häftling aus Marokko …

 

Für Außenstehende ist es natürlich ungewöhnlich, aber ich finde das gar nicht besonders. In gewisser Weise sind wir beide Gefangene des Krieges. Ich litt wegen der Bush-Regierung und ihrer Politik, er auch.

 

Ihre Geschichte ist aber auch ein Armutszeugnis für die US-Army. Mit den eigenen Leuten kann man sich nicht unterhalten, mit einem Gefangenen schon.

 

Stimmt. Aber das liegt einfach daran, dass die Gefangenen den Soldaten intellektuell überlegen sind. Die wissen ganz genau, dass nicht das amerikanische Volk, sondern die amerikanische Regierung schuld ist an Guantánamo. Deshalb hassen sie unser Land auch nicht oder denken an Rache. Das wäre eine sehr amerikanische Sichtweise.

 

Hatten Sie keine Angst, dass sie durch ihre Gespräche mit den Gefangenen Probleme kriegen würden?

 

Nein, überhaupt nicht. Deswegen werfen Sie einen nicht aus der Armee. Außerdem ist es mir egal, was andere Leute über mich denken.  

 

Hatten Ihre Kontakte keine negativen Folgen für Sie?

 

Doch. Als meine Vorgesetzten merkten, dass ich mich mit den Gefangenen anfreundete, bekam ich kaum noch Nachtschichten. Denn da hatte ich die meiste Zeit, mich mit den Häftlingen zu unterhalten. Außerdem musste ich vermehrt Aufgaben erledigen, die mich vom Gespräch mit den Gefangenen abhielten: Essen servieren, Wäsche waschen oder den Boden wischen. Einmal haben mich ein paar Soldaten hinter mein Wohnhaus geschleift und verprügelt. Sie wollten mich einschüchtern.

 

Haben sie den Vorfall ihren Vorgesetzten gemeldet?

 

Natürlich nicht. In der Armee hält man den Mund und befolgt die Regeln. Man hat keine andere Wahl. Zum Glück wussten nur meine beiden Soldatenkumpels, dass ich auch zum Islam konvertiert war.

 

Sie sind im Guantánamo zum Islam übergetreten. Waren Sie vorher schon gläubig?

 

Nein, aber ich suchte weiterhin nach etwas, das mein Leben strukturieren konnte. Diese Ordnung für mein Leben habe ich auch beim Militär nicht gefunden, sondern erst durch den Islam. Ich war beeindruckt, wie stark die Gefangenen in ihrem Glauben waren, obwohl sie eine schlimme Zeit durchmachten.

 

Wie sind Sie Moslem geworden?

 

Schon Wochen davor diskutierte ich mit Ahmed immer wieder darüber. Er ermutigte mich, hinterfragte die Entscheidung aber auch, weil ich absolut sicher sein sollte. Denn eine Konversion – noch dazu in Guantánamo – ist ein ernster Entschluss, den man nicht überhastet trifft. Als ich mir sicher war, saß ich in einer Nacht im Dezember 2003 vor Ahmeds Zelle. Ich bat ihn, mir die Schahada, die Worte des islamischen Glaubensbekenntnisses, in Lautschrift auf einen Zettel zu schreiben. Nur so ist eine Konversion zum Islam gültig. Dann schaute ich auf den Zettel und sagte auf Arabisch: Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.“ Danach schaute ich auf meine Armbanduhr. Es war 0.49 Uhr – und ich war Moslem.

 

Konnten Sie Ihren Glauben in Guantánamo überhaupt praktizieren – bis auf zwei Ihrer Kumpels durfte ja kein Kamerad davon wissen?

 

Das war nicht schwer. Man konnte während des Dienstes aufs Klo gehen. Wenn Zeit für das Gebet war, bin ich kurz aus dem Block gegangen und habe gebetet.

 

Haben Sie noch etwas mit dem Mann zu tun, der Sie waren, bevor Sie nach Guantánamo kamen?

 

Kaum etwas. Ich bin heute offener und toleranter, ich weiß mehr über andere Kulturen und deren Geschichte und will auf Reisen noch mehr über sie lernen.  Ich hinterfrage heute alles, was mir präsentiert wird.

 

Wie erging es Ihnen direkt nach Ihrer Rückkehr aus Guantánamo?

 

Nicht gut. Es war eine schwere Zeit. Ich fühlte mich entwurzelt und hatte einen Rückfall in frühere Zeiten. Meine Frau, die ich während des Militärdienstes geheiratet hatte, und ich ließen uns scheiden, ich begann wieder stark zu trinken. Aber dann erinnerte ich mich, wie mir mein Glaube in Guantánamo geholfen hat, und brachte mein Leben wieder auf die Reihe. Heute geht es mir sehr gut, ich arbeite an der Universität Phoenix in der Studentenkanzlei und habe eine tolle muslimische Gemeinde ganz in der Nähe gefunden.

 

Wie stehen Sie heute zu Guantanamo?

 

Je mehr ich darüber im Nachhinein erfahren habe, desto schlimmer fand ich diesen schrecklichen Ort. Guantánamo einzurichten, war eine der folgenreichsten Entscheidungen der US-Geschichte. Wir haben über 700 unschuldigen Menschen Jahre ihres Lebens gestohlen. Das kann man nicht wiedergutmachen. In den USA wissen immer noch zu wenige, was dort eigentlich passiert. Deshalb erzähle ich in der Öffentlichkeit von meinen Erlebnissen. Jeder soll wissen, dass das Lager so schnell wie möglich geschlossen werden muss und die Gefangenen in ihre Heimat zurückkehren sollen. Nur den wenigen schuldigen Häftlingen sollte in den USA der Prozess gemacht werden.

 

Empfinden Sie ihre Zeugenschaft als etwas Besonderes?

 

Ich bin darauf nicht stolz. Es ist eine Schande, dass dort so viele andere Soldaten waren und ihre Augen nicht geöffnet haben.