Brauchsanleitung

Fingerhakeln, Maibaumsteigen oder Schuhplatteln – Bayern legt großen Wert auf die Pflege alter Bräuche. Das stärkt nicht nur die eigene Identität, sondern auch die Gesundheit

 

ADAC reisemagazin  Nr. 136 - Gesundes Bayern - September/Oktober 2013

 

Von Mauritius Much

 

 

Manchmal mutet es ein wenig wie eine Zeitreise an. Wenn unterm Maibaum die Blasmusik spielt, junge Burschen einen Schuhplattler tanzen und sich im Bierzelt daneben gestandene Männer beim Fingerhakeln messen und die Frauen im Dirndl entzückt ihre Helden anhimmeln. Eine Zeitmaschine braucht's nicht, eine Fahrt nach Bayern genügt. Dort werden, wie kaum irgendwo in Deutschland, diese Bräuche und Traditionen gepflegt - auch von jungen Leuten.

 

Volkskundler glauben, dass sich die Menschen in Zeiten der Globalisierung und des rasanten technischen Fortschritts nach einer eigenen Identität sehnen und diese in  alten Traditionen finden. Ein Blick in die Vergangenheit genügt: Es ist kein Zufall, dass die ersten Trachtenvereine in Bayern Ende des 19. Jahrhunderts gegründet werden – zu einer Zeit, als das Königreich seine staatliche Unabhängigkeit zugunsten des deutschen Reiches verloren hatte. Durch die Pflege von Bräuchen sollte die Tradition bewahrt und gleichzeitig kulturelle Eigenständigkeit gezeigt werden.

 

Daran hat sich wenig geändert. Auch nicht an der Tatsache, dass die meisten Bräuche von männlichem Imponiergehabe geprägt sind. Ob sie auch gesund sind, hat die TV-Fitnesstrainerin Johanna Fellner für uns analysiert. Wir stellen fünf Riten vor - und die Expertin erklärt, was aus sportwissenschaftlicher Sicht davon zu halten ist. 

 

 

Fingerhakeln

 

Sich gegenseitig über den Tisch ziehen und dabei den Mittelfinger zeigen ist nicht gerade die feine bayerische Art, könnte man meinen. Bei der Familie Graf gehört das jedoch zum ganz normalen Freizeitprogramm. Stefan Graf und seine drei Söhne sind Fingerhakler. „Beide Hakler fertig … zieht!“, ruft der Schiedsrichter, und sofort stemmen Vater und Sohn   ein Schienbein in die Polster an den Seiten des Fingerhaklertisches und zerren an dem Lederriemen. Nach zwei Sekunden ist das Generationenduell in der grafschen Scheune in Wettzell bei Bad Kötzting entschieden. Der Vater hat seinen ältesten Jungen über die schwarze Linie am Tischende gezogen. das liegt wohl auch an seiner Erfahrung, denn es siegt nicht unbedingt der Stärkste, sondern der beste Techniker.  „In den ersten Sekundenbruchteilen entscheidet sich der Kampf. Wer am besten wegzieht, gewinnt“, sagt der Treppenbauer Graf, der seit seiner Kindheit hakelt und dessen Hornhaut an beiden Mittelfingern mehrere Millimeter dick ist. In jeder Freistunde duellierte er sich als Kind mit seinen Mitschülern auf der Schulbank, seit 30 Jahren tut er dies beim Fingerhaklverein Rimbach. Es gibt eigens Vergleichswettkämpfe - von den Bayerischen, den Deutschen bis zu den Alpenländischen Meisterschaften. Noch stimmt die Hackordnung bei den Grafs - wie in einem Rudel Wölfe. Sollte der Vater aber doch einmal verlieren, wird er deswegen nicht verstoßen. Ist ja nur ein Spiel.

 

Das sagt die Fitnesstrainerin Johanna Fellner:  Beim Fingerhakeln werden nicht nur Arm und Finger trainiert. Die Hakler setzen auch ihr ganzes Gewicht ein und stabilisieren ihren Körper dabei über die Bauchmuskeln. Vor dem Kampf dehnen sie ausgiebig ihren Finger, damit Haut und Gelenkkapseln nicht reißen

 

Vergleichbare Übung im Fitnessstudio: Seilzug oder Rudern

 

Wirkung: Kraft- und Muskeltraining für Arme und Bauch

 

 

Maibaumsteigen

 

Dem klebt Pech an den Händen - das ist ein Satz, den keiner gerne hört. Bei den Zeiinger Maibaumsteigern ist er gar nicht wegzudenken. Unschön allerdings der Gedanke, dass die Männer dafür Saupech verwenden. Das nimmt der Metzger normalerweise zum Entborsten von Schweinen. Die Zeiinger mischen ein paar Geheimzutaten bei, uns schon geht's hoch. Bernhard Veigl umgreift den Stamm im niederbayerischen Rogglfing und setzt seine Fußballen immer abwechselnd auf. Sein Spezl schlint die Füße um den Baum und baumelt mit Kopf und Händen nach unten oder lässt sich wie ein Pendel schwingen. Das ist nur einer der Tricks, die die Akrobaten aus dem niederbayerischen Zeilarn, nach dessen Kurzform sie sich benannt haben, zwischen dem 1. Mai und Ende Juni auf Festen in Niederbayern aufführen.  „Früher wurden oben Würstl angebracht, die die Buam runtergeholt haben, um den Dirndln zu imponieren“, sagt Veigl, der seit  mehr als 20 Jahren kraxelt. Heute wird auf Zeit geklettert, oder es werden Kunststücke aufgeführt. Die Kraft fürs Steigen holen sich die Männer in ihren Handwerksberufen, trainiert wird in einem Getreidesilo an einem Übungsbaum. Nervös sind sie vor jedem Aufstieg. „Die Angst vor einem Absturz klettert mit", gesteht Bernhard Veigl. Aber der Lohn für diesen Wagemut ist immer wieder überwältigend: staunende, fesche Frauen im schönen Dirndl. Es hat sich halt doch nichts geändert.

 

Das sagt Fitnesstrainerin Johanna Fellner: Das Maibaumsteigen ist mit dem Klettern vergleichbar, weil auch hier der ganzen Körper eingesetzt wird, von den Händen über Arme, Rücken, Bauch und Beine hin zu den Füßen

 

Vergleichbare Übung im Fitnessstudio: Liegestütz

  

Wirkung: effektives Ganzkörpertraining, bei dem komplette Muskelketten angesprochen werden

 

 

Schuhplatteln

 

Eine Heirat kann auch Nachteile haben. Der eine muss das Motorradfahren aufgeben, andere dürfen nicht mehr vor dem Fernseher essen. Markus Kaffl müsste das Schuhplatteln aufgeben. Denn im ursprünglichen Sinne ist das ein Werbetanz, bei dem junge Männer auf sich aufmerksam machen wollen. Also lang bevor es tiefergelegte Autos und Markenjeans gab. Mit einem Ring am Finger müsste der 23-jährige Vorplattler die Feilnbacher Mädchen ja nicht mehr mit komplizierten Schlagkombinationen beeindrucken. „So will's der Brauch", erklärt Kaffl. Auf ihn hören die drei jungen Männer und vier jungen Frauen der Aktiven Plattlergruppe des Trachtenvereins „D’Jenbachtaler Bad Feilnbach“. Zusammen bilden sie auf der Terrasse der Wirtsalm am Fuß des Wendelsteins vier Paare. Dann lösen sich die Burschen von ihren Partnerinnen, stampfen auf den Boden und schlagen sich (bairisch: platteln) abwechselnd mit den flachen Händen auf Oberschenkel und Haferlschuhsohlen. Dabei stehen sie jeweils nur auf dem Ballen des Fußes, auf den sie gerade nicht schlagen, und wippen im Takt des „Gauplattler“, eines Volksmusikstücks. Währenddessen drehen sich die Mädchen um die eigene Achse und um die plattelnden Burschen herum.  Das Schuhplatteln hat Markus Kaffl schon als Kind fasziniert. Deshalb trat er mit acht Jahren dem Verein bei, der seit seiner Gründung 1884 einer der ältesten Trachtenvereine in Bayern ist. Wenn er heiratet, wird er wieder gehen müssen. So muss es sein, aus Liebe zur Tradition.

 

Das sagt die Fitnesstrainerin Johanna Fellner: Beim Schuhplatteln stehen die Burschen nur auf dem Fußballen, so dass der gesamte Körper von den Füßen und Waden bis hin zu Rücken und Armen mitarbeitet. Durch den wechselseitigen Einsatz von Händen und Füßen wird die Koordination zwischen den Muskeln sowie zwischen linker und rechter Gehirnhälfte gefördert. Durch das „Dirndldrahn“ werden Beine und Gesäß sowie die Koordination der Mädchen trainiert

 

Vergleichbare Übung im Fitnessstudio: Aerobic oder Ganzkörper-Kraft-Ausdauer-Workouts

 

Wirkung: effektives Ganzkörper- und Kraftausdauer-Koordinationstraining

 

 

Goaßlschnalzen

 

Wenn der Bauer Hans Wallner vor mehr als fünfzig Jahren mit seiner Pferdekutsche durch Prien am Chiemsee fuhr, dann schwang er in engen Kurven seine Fuhrmannspeitsche, die in Bayern Goaßl heißt, und ließ sie mit einem lauten Knall schnalzen – schon hatte der Mann Vorfahrt. 1963 kam ihm die Idee, dass sich das auch im Takt bayerischer Volksmusik  vor Publikum machen ließe: Mit vier weiteren Prienern trat er so auf der Münchner Theresienwiese auf und hatte großen Erfolg: Seitdem schwingen bei fast jedem bayerischen Fest Goaßlschnalzer ihre Peitschen auf Biertischen.  Diese Leidenschaft hat Wallner an seinen Sohn Hansi weitergegeben. Der 33-Jährige schnalzt, seit er 15 ist, und führt heute die zehn „Priener Goaßlschnalzer“ an. „Aber es ist nicht leicht, der Peitsche einen Knall zu entlocken“, sagt Wallner. „Manche brauchen Jahre.“ In einer schnellen Bewegung muss man mit der Goaßl eine liegende Acht in die Luft schreiben. Die Schmitz, das bis zu 50 Zentimeter lange Ende des Peitschenstricks, wird dabei über die Schallgeschwindigkeit hinaus beschleunigt, so dass es zu einem Überschallknall kommt. Ungefährlich ist das Schnalzen nicht: Damit die Schmitz nicht versehentlich ein Ohr aufschlitzt, tragen die „Priener Goaßlschnalzer“ einen Hut mit breiter Krempe. Dafür ist aber der Alltag in Prien inzwischen deutlich sicherer als zu Hans Wallners Zeiten: Autos haben Hupen.

 

Das sagt Fitnesstrainerin Johanna Fellner: Das Goaßlschnalzen trainiert primär die Armmuskulatur. Aber der gesamte Körper muss die Peitschenbewegung ausgleichen, so dass auch die zentral stabilisierende Rumpfmuskulatur aus Beckenboden, kompletter Bauchmuskulatur, Rücken, Gesäß und Adduktoren angesprochen wird.

 

Vergleichbare Übung im Fitnessstudio: Auf instabilem Untergrund wie Wackelpads Seile in Wellenform bewegen.

 

Wirkung: Krafttraining für den Arm sowie Rumpf-Bauch-Training

 

 

Steinheben

 

Vor Michael Porers Elternhaus stand früher ein alter, 250 Kilogramm schwerer Grabstein, an den ein Metallgriff montiert war. Den hob schon sein Vater in die Luft, um sich für die Wettkämpfe vorzubereiten. „Der Stein hat mich nicht losgelassen. Schon als Jugendlicher habe ich versucht, ihn zu bewegen“, erinnert sich Porer, 43. Mit 18 Jahren folgte er dem Hobby des Vaters. Heute trainiert der vierfache Deutsche Meister zusammen mit Marco Wanke vier Mal die Woche.  Porer steigt auf das Gestell vor einer Scheune bei Garmisch-Partenkirchen. Er geht in die Knie und hebt den Stein scheinbar mühelos einen Meter nach oben. Im Wettkampf muss Porer 254 Kilo  hochheben – der Steyrer Franz,  ein Münchner Gastwirt, soll das Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Hand geschafft haben. Wenn mehrere Teilnehmer den Stein einen Meter hochwuchten, werden so lang weitere 25 Kilo aufgelegt, bis es einen Sieger gibt. In bayerischen Bierzelten kommt das organisierte Kräftemessen beim Publikum bis heute sehr gut an.

 

Das sagt Fitnesstrainerin Johanna Fellner: Steinheben ist eine Ganzkörperbewegung, bei der zunächst Oberschenkel und Gesäß, dann aber auch Rücken, Schultern und Arme beansprucht werden

 

Vergleichbare Übung im Fitnessstudio: klassisches Kreuzheben mit einer Langhantelstange

 

Wirkung: funktionelles Ganzkörperkrafttraining, das mehrere Muskelgruppen gleichzeitig fordert